Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 entwickelten sich in den ost- und mitteleuropäischen Ländern neue Demokratie- und Reformbewegungen, anhand derer die Staaten Veränderungen in ihren Ländern bewirken wollten. Nach großem Anfangsenthusiasmus stellte sich bei vielen Menschen verstärkt eine Enttäuschung über die neoliberalen Wirtschaftsreformen in den 1990er Jahren ein. Die populistischen Versprechen, den „alten Glanz“ wiederherzustellen und so auch den ehemals Begünstigten ihre Privilegien zurückzugeben, fiel daher auf fruchtbaren Boden: Heute sind populistische Parteien in einer Reihe von Staaten in der Regierungsverantwortung. Auch in etablierten westlichen Demokratien haben (Rechts-)Populisten deutliche Zugewinne erzielt. Der Aufstieg des Populismus stellt daher nicht nur die einzelnen Staaten, sondern die gesamte Europäische Union vor Herausforderungen.
Mit dieser komplexen Thematik setze sich das diesjährige Osteuropa-Seminar des KAAD unter der Leitung von Markus Leimbach auseinander.
In einem einführenden Vortrag zeigte der Bonner Politikwissenschaftler Prof. Dr. Andreas Heinemann-Grüder zunächst die Entwicklung von Demokratie und Autoritarismus in Mittel- und Osteuropa auf. Er machte hierbei deutlich, dass der Rückgang der Demokratie, den er seit 2005 beobachtet, keine rein osteuropäische Entwicklung sei, sondern auch Westeuropa, wie die Beispiele Italien und Österreich zeigten, beträfe. Für die Gesamtentwicklung in Osteuropa verwies er auf das Dilemma der Gleichzeitigkeit: Durch das Wiedererstehen von Einzelstaaten, verbunden mit der gleichzeitigen Änderung des politischen Systems und des Wirtschaftssystems, sei es zu einem Erstarken von populistischen Bewegungen gekommen. Ein weiteres Problem sei die nicht erfolgte Entfernung der alten politischen Eliten aus ihren Ämtern: Um eine mögliche Konterrevolution zu verhindern, wurden ehemalige Staatsbedienstete in neue Regierungssysteme eingebunden und übernehmen nun, wie in Georgien, wieder politische Verantwortung.
Ergänzt wurde der Vortrag von Andreas Heinemann-Grüder durch Referate von Teilnehmenden aus Litauen, Ungarn und der Ukraine, in denen die Entwicklung in den einzelnen Ländern aufgezeigt und kritisch beleuchtet wurde. KAAD-Stipendiat Peter Kiss aus Ungarn machte die Euroskepsis in Ungarn unter anderem daran fest, dass Ungarn nach 1990 zunächst politisch und wirtschaftlich selbstständig war. Mit dem Eintritt in die EU 2004 entstand aber, nach einer großen Euphorie, das Gefühl einer neuen Abhängigkeit. Dies wurde von Populisten wie dem Ungarischen Bürgerbund (Magyar Polgári Szövetség – kurz Fidesz) aufgenommen, um den ungarischen Nationalismus zu stärken.
Für Litauen zeigt KAAD-Stipendiatin Egle Rudoskaite, dass es in den letzten Jahren vermehrt populistische Tendenzen gab und sogar Populisten in die Regierung gewählt wurden, die dieser Verantwortung aber nicht gerecht werden konnten. In Litauen engagiert sich die Zivilgesellschaft immer stärker, um die demokratischen Strukturen zu erhalten.
In der Ukraine sind die demokratischen Strukturen durch den Krieg geschwächt worden, aber das zivilgesellschaftliche Engagement ist gestiegen und das politische Interesse an der demokratischen Gestaltung des Landes vorhanden. KAAD-Stipendiatin Anna Chyrwa wies besonders auf den bestimmenden Einfluss der Medien hin, die sehr stark meinungsbildend sind und daher kritisch betrachtet werden müssen.
Den Blickwinkel eines katholischen Hilfswerkes stellte die Renovabis-Projektreferentin Christiana Hägele vor. Insbesondere der Spagat zwischen der Förderung notwendiger Projekte für Kirchen und NGOs und der jeweiligen politischen Situation in einem Land ist in vielen Fällen herausfordernd, wie Christiana Hägele anhand von Beispielen aus Ungarn, Belarus und Serbien aufzeigte.
Geprägt von den eigenen Erlebnissen und Erfahrungen gingen die Teilnehmenden, die aus zehn verschiedenen Ländern stammen, in Arbeitsgruppen auf das Thema ein und erarbeiteten persönliche Handlungsoptionen. Als wichtig empfanden alle, dass junge Menschen, insbesondere diejenigen mit Auslandserfahrungen, neue Impulse in die Gesellschaft einbringen und damit auch Veränderungen bewirken können. Als kritisch wurde empfunden, das in vielen Ländern Politiker ihre Machtposition für eigene Zwecke nutzen und sich nicht immer für das Wohl der Gesellschaft einsetzen würden. Ganz wichtig war für alle, dass die allgemeine Medienkompetenz verbessert werden müsse, um Fake News und Agitation in den Sozialen Medien bessern erkennen und einordnen zu können.
Das Seminar wurde von P. Prof. Dr. Thomas Eggensperger OP, geistlicher Beirat des KAAD, begleitet. In einem Abschlussgottesdienst reflektierte er die Erfahrungen aus dem Seminar. Abgerundet wurde das Seminar durch eine Stadtführung durch Münster und einen gemeinsamen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt.