In der Provinz Tigray herrschte bis vor Kurzem ein schrecklicher Krieg mit vielen zivilen Opfern. Für den KAAD ist die Eparchie Adigrat als Herkunftsort vieler Stipendiatinnen und Stipendiaten sehr bedeutsam. Der Besuch sollte dazu dienen, mehr über die Verhältnisse vor Ort zu erfahren und die Strukturen der katholischen Kirche und der großteils zerstörten Universität von Adigrat zu erkunden. Der Gastgeber BischofTesfaselassie Medhin ist dem KAAD seit vielen Jahren stark verbunden.
Erst seit Kurzem ist dieses Gebiet wieder für Menschen von außen zugänglich, können sich auch Journalisten oder Besucher wieder ein Bild von der Lage vor Ort machen. In Europa gibt es wenig Bewusstsein für diesen Krieg, der zwischen 600 000 und einer Million Tote gefordert hat. Innerhalb der Kirche vor Ort hat man zumindest versucht, über die grausamen Taten und die Opfer Buch zu führen.
Die Strukturen und Vertreter der katholischen Kirche vor Ort waren schon vor dem Konflikt wichtig für die Menschen vor Ort: Sie haben während des Konflikts ausgehalten und sind jetzt, da dieser Konflikt hoffentlich abklingt, an der Seite der Menschen. Der Besuch der kleinen KAAD / KASHA-Delegation sollte gegenüber dem Bischof von Adigrat Solidarität ausdrücken und seinen Mitarbeitenden und den Menschen dort für das Leid und das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, Mitgefühl bekunden. Eine wichtige Komponente war dabei, dass die beiden Begleiter Dr. Ephrem Tekle Yacob und Tsegaye Yoseph aus dem Teil Äthiopiens stammen, der auf der anderen Seite des Konfliktes liegt. Gegen den Besuch der beiden gab es zunächst Vorbehalte, die sich erst beim Besuch auflösten, als sie den Menschen zuhörten und mit ihnen fühlten. Tsegaye Yoseph ist Bauunternehmer und hat in Mekelle, der Hauptstadt der Region Tigray, ein Bachelorstudium in Bauingenieurwesen abgeschlossen, bevor er als KAAD-Stipendiat ein Masterstudium in Stuttgart absolvierte. Während seines Bachelorstudiums war er besonders aktiv in der katholischen Studentenvereinigung IMCS (International Movement of Catholic Students) und wurde auch der Vorsitzende dieser Gruppierung in der ganzen Region des Nordens von Äthiopien. Sein jetziger Besuch dort konnte nun anknüpfen an die Zeit lange vor dem Krieg und lange bevor sich die Menschen aus den beiden Teilen Äthiopiens pauschal als Feinde empfanden. Dr. Ephrem Tekle Yacob, der als Erziehungswissenschaftler nach seiner KAAD-geförderten Promotion in Heidelberg an einer staatlichen Universität in Addis Abeba arbeitet, hat eine wichtige Position im Rat der katholischen Laien Äthiopiens inne. Als weitere Teile der Delegation schlossen sich außerdem zwei KAAD-Alumni an, die vor Ort arbeiten: Yohanes Hagos Giday, Sur-Place-Stipendiat für Master-Studien in Soziologie, der im tigrayischen Axum für die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) tätig ist. Er stammt selbst aus der Diözese Adigrat und kennt den Bischof und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestens. Die KAAD-Alumna Nakai Munikwa aus Simbabwe arbeitet in der Regionalhauptstadt Mekelle für das UN-Kinderhilfswerk UNICEF und war dort auch schon während des Krieges im Einsatz. Nakai Munikwa führte die Gruppe dann auch in das UNICEF-Büro, wo der konzertierte Ansatz in der Nothilfe („Cluster Approach in Humanitarian Response“) vorgestellt wurde. Eine weitere Station in Mekelle war die katholische Hilfsorganisation Catholic Relief Services (CRS), die von den Katholikinnen und Katholiken der Vereinigten Staaten von Amerika getragen wird. Hier war ein intensiver Austausch über die humanitäre Intervention kirchlicher Akteure und die verheerende Wirkung der Einstellung der Nahrungsmittelhilfe durch das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) möglich. Dieses stellte Anfang Mai vorübergehend seine Nahrungsmittelverteilungen in ganz Äthiopien ein, was seitdem vor allem den Hungernden im kriegsgebeutelten Tigray vielerorts die lebenswichtigen Essensausgaben vorenthält. Im April 2023 war bekannt geworden, dass Hilfsgüter nicht wie geplant kostenlos an Bedürftige verteilt, sondern im großen Stil verkauft worden waren. Dem CRS gelingt es beispielsweise nur noch durch geschickte Vorratshaltung, den Hunger der Bevölkerung zu lindern bis hoffentlich wieder Lieferungen im großen Stil anlaufen. Nach dem Friedensschluss, der sehr brüchig und an vielen Stellen bewusst nicht zu Ende gedacht ist, ist der Hunger eine verheerende Komponente in der Gemengelage in Tigray. Durch den Krieg wurden ein Großteil der Infrastruktur und viele Zugangswege für Nahrungsmittelhilfe zerstört. Die KAAD-/KASHA-Delegation konnte sich ein Bild vor Ort machen, als sie eines der Lager außerhalb von Mekelle besuchte, in dem viele Tausende von binnenvertriebenen Flüchtlingen leben und wo der Besuch einer Station zur Säuglingsernährung klar machte, dass hier die Warnzeichen immer deutlicher werden. Die Situation nimmt jetzt Ausmaße wie bei der großen Hungersnot am gleichen Ort in den Jahren 1984/85 an . Damals wurde die internationale Gemeinschaft aufgerüttelt, alle zeigten sich solidarisch, das größte Benefizkonzert der Geschichte wurde aus dem Boden gestampft. Heute scheint es kaum jemanden zu interessieren, was dort in Nord-Äthiopien passiert.
Kernstück des Besuchs war dann die Begegnung mit dem Bischof von Adigrat, Tesfaselassie Medhin. Er schilderte eindrücklich, was in der Zeit des direkten kriegerischen Konflikts mit seiner Diözese und den Menschen vor Ort passiert war. Auch das Lehrpersonal des dortigen Priesterseminars berichtete von systematischen Vergewaltigungen, Plünderungen und Erschießungen außerhalb von Kampfhandlungen. Fast jeder der Menschen hier hat auf diese Weise mehrere Familienmitglieder, Nachbarn und Freunde verloren – hier im äußersten Nordosten vor allem durch die von der äthiopischen Zentralregierung zur Hilfe gerufenen Truppen aus dem Nachbarland Eritrea. Diese Soldaten hegen großen Hass auf die Menschen in Tigray, was aus dem äthiopisch-eriträischen Grenzkrieg in den 1990er-Jahren herrührt. Auch in der Eparchie Adigrat konnten sich die Besucher von der unermüdlichen Arbeit vor dem Krieg, während des Krieges und nach den aktiven Kampfhandlungen überzeugen. Die Mitarbeitenden des katholischen Sekretariats stellten die Schwerpunkte ihrer Bemühungen und ihrer Projekte vor und zeigten gleichzeitig, wie sehr sie persönlich betroffen und oft traumatisiert sind.
Ebenso beeindruckend und bedrückend war dann der Besuch in der staatlichen Adigrat Universität, einer vor dem Krieg aufstrebende Hochschule, deren technische Ausstattung zu den besten in ganz Äthiopien gehörte, da hier ein Schwerpunkt auf Informations- und Kommunikationstechnologien lag. Während der Besetzung von Adigrat durch eritreische Truppen nutzten diese das Universitäts-Gelände und seine Gebäude als Armeestützpunkte. In dieser Zeit (und insbesondere vor dem Verlassen des Campus) richteten die Soldaten dort eine Orgie der Zerstörung und Plünderung an. Es gibt kaum noch ein unbeschädigtes Möbelstück oder eine Türe, die nicht eingetreten ist; kaum ein Bildschirm, der nicht kaputt gemacht oder nach Eritrea mitgenommen wurde. Nach der Verschiebung der Frontlinie wohnten hier dann wiederum Soldaten der äthiopischen Föderalarmee und das Gelände kam unter den Beschuss von Granatfeuer aus Eritrea. Auch von den Spuren dieser Zerstörung konnte sich die KAAD / KASHA-Delegation ein Bild machen. Es war sehr beeindruckend zu hören und zu erleben, wie das Leitungsteam der Adigrat Universität unter der Führung des Präsidenten Prof. Zaid Negash nun mit bescheidenen Mitteln und den wenigen bereits aufgeräumten Teilen der Gebäude wieder einen Anfang wagt und bald wieder die ersten Studentinnen und Studenten empfangen möchte.
Die Mechanismen ethnisch geprägter Kriege sind in Tigray die gleichen wie etwa in der Ukraine oder in den Balkankriegen der 1990er: Ethnische Identitätspolitik treibt in den Hass, Kriegsherren treiben ihr zynisches Spiel und die einfachen Menschen, die schutzlos der Gewalt ausgeliefert sind, sind die Leidtragenden. In diesem Fall hat es vor allem die Volksgruppe der Irob, aus der so viele der Katholikinnen und Katholiken Äthiopiens stammen, besonders hart getroffen. Ihr Gebiet liegt genau in der Grenzregion zu Eritrea, das bis heute von hunderttausenden Soldaten aus Eritrea besetzt gehalten wird, die sich nicht an den Friedenschluss von Pretoria, bei dessen Verhandlungen Eritrea nicht mit einbezogen wurde, gebunden fühlen,. Der Bischof von Adigrat kann deshalb bis heute 13 seiner Pfarreien nicht betreten, die humanitäre und pastorale Arbeit der Kirche ist dort nur in extrem geringem Umfang möglich.
Leider sind auch religiöse Konfliktlinien im vorliegenden Konflikt nicht zu leugnen, auch wenn sie hier gar nicht zwischen Angehörigen verschiedener Religionen oder Konfessionen verlaufen. Die Gläubigen der äthiopisch-orthodoxen Kirche in Tigray fühlten und fühlen sich von ihren Geschwistern im Süden, also außerhalb Tigrays, massiv im Stich gelassen, weil kein Bischof bei den Machthabern in Addis Abeba intervenierte, keine prominente kirchliche Stimme gegen das Morden und die massiven Menschenrechtsverletzungen in Tigray erhoben wurde. Kurz vor dem Besuch der KAAD / KASHA-Delegation in Adigrat hatte sich schließlich die äthiopisch-orthodoxe Kirche für ihre passive Rolle während des Krieges in Tigray bei der lokalen Kirche und der Bevölkerung entschuldigt. Man habe versäumt, rechtzeitig für ein Ende des Krieges einzutreten, und die Menschen im Stich gelassen, heißt es in einer Erklärung vom 6. Juli. Leider aber zeitigte diese nicht die gewünschten Schritte hin zur Verständigung, denn während die KAAD-Gruppe in Adigrat war, traf in Mekelle eine Delegation von Bischöfen unter der Leitung von Patriarch Abune Matthias ein, um einen Versöhnungsversuch mit den Bischöfen aus der Tigray-Region zu unternehmen. Diese blieben dem Treffen aber geschlossen fern und trieben in der Folge den Versuch, eine autokephale Tigrayisch-Orthodoxe Kirche zu gründen, weiter voran.
Ganz ähnlich verhält es sich auf katholischer Seite: Die Diözese Adigrat umfasst die ganze Region von Tigray und Bischof Tesfaselassie hätte die KAAD-Delegation nicht empfangen können, wäre er zur Sitzung der katholischen Bischofskonferenz nach Addis Abeba gereist. Er nahm aber als einziger nicht an dieser Teil, weil es für ihn (noch) nicht möglich ist, mit seinen Mitbrüdern zusammenzusitzen, ohne eine Aufarbeitung des Geschehenen, ohne die Frage nach der seines Erachtens ausgebliebenen Solidarität mit den Menschen im Norden und den Angehörigen seiner Diözese (Eparchie) zu behandeln. Auch vor diesem Hintergrund war der Solidaritätsbesuch der KAAD / KASHA-Delegation ein wichtiger erster Schritt hin zu einer möglichen Versöhnung. Diese kann nämlich nie gelingen, wenn ein Mensch das Leid des anderen erst dann sehen will, wenn dieser auch sein eigenes Unrecht eingestanden hat. Schritte zur Versöhnung sind immer eine Vorleistung – und ein Wagnis – außerhalb und innerhalb der Kirche.