Demokratien stehen weltweit unter Druck. Autoritäre Tendenzen, soziale Ungleichheit, Desinformation und geopolitische Spannungen gefährden vielerorts die Grundlagen freiheitlicher Gesellschaften. In dieser Situation bedarf es einer gemeinsamen Anstrengung, die Ursachen dieser Entwicklungen zu verstehen – und Räume für Bildung, Teilhabe und Verantwortung offen zu halten.
Unter dem Titel „Demokratien unter Druck – Ursachen und Handlungsstrategien aus globaler Perspektive“ versammelte der KAAD vom 22. bis zum 25. Mai 2025 rund 250 Stipendiatinnen und Stipendiaten sowie Alumnae und Alumni aus 45 Ländern in Bonn. Ziel war es, sich gemeinsam mit den Spannungsfeldern, Zielkonflikten und Gestaltungsaufgaben demokratischer Systeme auseinanderzusetzen – disziplinübergreifend, interreligiös und auf Grundlage konkreter Erfahrungen.
Im Vorfeld der Jahresakademie tagten die Fachgruppen des KAAD. Sie arbeiten unterjährig zu gesellschaftlich relevanten Themenfeldern und nutzten das Zusammentreffen im Rahmen der Akademie, um sich dem diesjährigen Leitthema gemeinsam und interdisziplinär anzunähern.
Im Kolloquium der Fachgruppe Global Health wurde diskutiert, wie sich gesundheitliche Versorgung im Spannungsfeld von Universalität und struktureller Ungleichheit bewegt. Die Fachgruppe Frieden und Gerechtigkeit fragte, wie sich die Teilnehmenden in ihren jeweiligen Kontexten für friedensfördernde Strukturen und Praktiken einsetzen. Ein Workshop der Fachgruppe Wasser verband Fragen globaler Ressourcengerechtigkeit mit konkreten Analysen zu Wasserprivatisierung und Bürgerbeteiligung. Die Fachgruppe Religion im Dialog untersuchte Wechselverhältnisse von Religion und Ökologie, Nationalismus und Hochschulbildung. Partizipativ war das Treffen der Fachgruppe Sprache, die unter der Leitfrage „Wer darf sprechen – und wer wird gehört?“ Räume für kritische Analyse und Selbstreflexion eröffnete.
In seinem Grußwort zur Eröffnung der Jahresakademie rückte KAAD-Präsident P. Dr. Hans Langendörfer SJ die Bedeutung biografisch fundierten Erfahrungswissens in den Mittelpunkt. Es sei diese Form des Wissens – „was Menschen erlebt, durchlitten, durchdacht haben – und wofür sie einstehen“ –, die eine besondere Tiefenschärfe in der Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen ermögliche. Demokratie, so P. Langendörfer, beginne nicht im theoretischen Entwurf, sondern im Alltag – dort, wo sie gefährdet, herausgefordert und gelebt werde.
Dr. Nora Kalbarczyk, Generalsekretärin des KAAD, beschrieb Demokratie als konflikthafte, widersprüchliche und verletzliche Praxis. Bildung müsse in diesem Zusammenhang mehr leisten als Qualifikation: Sie solle Räume eröffnen für Teilhabe, Anerkennung und Verantwortung. Gerade im internationalen Netzwerk des KAAD gelte es, Bildungsprozesse so zu gestalten, dass sie demokratisches Handeln nicht nur thematisieren, sondern ermöglichen.
Die anschließenden Eröffnungsvorträge griffen die zuvor gesetzten Impulse auf und führten sie in theoretischer und globaler Perspektive weiter. Prof. Dr. Tanja A. Börzel, Professorin für Politikwissenschaft, Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und Sprecherin des Exzellenzclusters „Contestations of the Liberal Script“ (SCRIPTS), ging in ihrem Vortrag „Democracy under Pressure: Causes and Consequences“ auf die Ursachen und Konsequenzen der Erosionsprozesse liberal-demokratischer Ordnungen ein. Sie verwies auf die zunehmende Spannung zwischen den normativen Idealen und deren Aushöhlung unter Bedingungen gesellschaftlicher Polarisierung, autoritärer Mobilisierung und globaler Machtverschiebungen. Sie plädierte dafür, Resilienz nicht als statischen Zustand, sondern als Ergebnis lernender Institutionen zu begreifen, die in der Lage sind, Krisen produktiv zu verarbeiten und demokratische Strukturen zu erneuern: „Demokratische Resilienz zeigt sich nicht in der Abwesenheit von Krisen, sondern in der Fähigkeit, mit tiefgreifenden Konflikten produktiv umzugehen.“
Dr. Ana María Bonet, Juristin und Wissenschaftlerin am Nationalen Rat für wissenschaftliche und technische Forschung (CONICET) sowie an der Katholischen Universität Santa Fe (Argentinien), brachte die Perspektiven des Globalen Südens ein. Sie betonte, dass die gegenwärtige Krise nicht nur von außen an Demokratien herangetragen werde, sondern in ihren eigenen Ausschlusslogiken angelegt sei: „Die Unfähigkeit, den Anderen anzuerkennen, ist vielleicht die tiefere Krise der Demokratie.“ Mit ihrem relationalen, kontextbezogenen Demokratieverständnis plädierte Ana María Bonet für plurale, lebensnahe und partizipativen Formen demokratischer Praxis.
Am Freitagvormittag wurden die zentralen Fragestellungen der Jahresakademie in fünf Fachforen vertieft. In interdisziplinären Panels und Dialogformaten wurde sichtbar, wie vielfältig und kontextabhängig der Druck auf demokratische Ordnungen weltweit verläuft.
Im Forum „Mangelnde Repräsentativität? Demokratische Institutionen und der Aufstieg populistischer Strömungen“ diskutierten Prof. Dr. Wolfgang Muno (Universität Rostock) und die KAAD-Promotionsstipendiatin Aye Aye Htun (Universität Erfurt), wie demokratische Legitimität dort zu verteidigen ist, wo sie durch Polarisierung, soziale Ungleichheit und populistische Rhetorik herausgefordert wird.
Dem Verhältnis von Religion und Demokratie widmete sich das zweite Forum. Dr. Thomas Arnold, u. a. Berater der Deutschen Bischofskonferenz, und KAAD-Alumna Dr. Locardia Shayamunda (University of Zimbabwe) sprachen über kirchliches Handeln im Spannungsfeld zwischen politischer Verantwortung und theologischer Ethik.
Welche Rolle Medien für demokratische Öffentlichkeit spielen, wurde im Forum „Gefährdete vierte Gewalt?“ verhandelt. Leonie Krzistetzko und Kristina Beckmann (TU Dortmund) sowie Prof. Dr. Viktor Khroul (Katholische Universität Ružomberok) thematisierten journalistische Verantwortung, staatliche Einflussnahme und die Dynamik von Desinformation.
Historische Tiefenschärfe prägte das Forum „Demokratie und Kolonialismus“. Dr. Jörg Lüer und Dr. Norman Mukasa (Deutsche Kommission Justitia et Pax) zeigten auf, wie historisch gewachsene Ungleichheiten bis heute politische Aushandlungsräume strukturieren und mit welchen Herausforderungen insbesondere junge Demokratien konfrontiert sind.
Um zivilgesellschaftliche Handlungsräume ging es im Forum „Shrinking Spaces“. Dr. Lena Gutheil (German Institute of Development and Sustainability) und KAAD-Stipendiat Zau Tu (Asia Justice and Rights, Myanmar) berichteten aus ihren regionalen Kontexten und diskutierten Kooperationspotenziale und strukturelle Grenzen zivilgesellschaftlicher Einflussnahme.
Am Nachmittag kamen die Teilnehmenden dann unter dem Titel „Demokratien unter Druck – Ventile für die Freiheit“ in einem Barcamp-Format zusammen. Dabei wurden unterschiedliche Perspektiven auf gegenwärtige Herausforderungen demokratischer Praxis sichtbar. Im Zentrum des gemeinsamen Reflektierens standen unter anderem der Einfluss von Journalismus und sozialen Medien, postkoloniale Machtverhältnisse, Dynamiken von Migration, Inklusion und Minderheitenrechten, das Erstarken autoritärer Bewegungen sowie die Rolle internationaler Organisationen. Durch das Teilen von persönlichen Erfahrungen, wissenschaftlichen Perspektiven und beruflichem Wissen entstand ein kritischer und offener Dialog auf Augenhöhe.
Der Freitagabend war dem Dank an Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter des KAAD gewidmet. Im musikalisch gerahmten Festakt kamen institutionelles Engagement und persönliche Verbundenheit zum Ausdruck.
Mit der Bene-Merenti-Medaille wurden Prof. Dr. Claudia Stockinger und Prof. Dr. Herwig Stopfkuchen ausgezeichnet. Claudia Stockinger war von 2011 bis 2024 Mitglied im Akademischen Ausschuss des KAAD, während Herwig Stopfkuchen zwanzig Jahre lang als Vertrauensdozent unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten mit großem persönlichem Einsatz begleitete.
Der KAAD-Alumnus Prof. Dr. Helmuth Mauricio Gallego Sánchez (Kolumbien) wurde ebenfalls mit der Bene-Merenti-Medaille ausgezeichnet. Sein berufliches Wirken verbindet rechtliche Expertise mit unternehmerischem und sozialökologischem Engagement – unter anderem in Projekten zur Umnutzung von Mülldeponien und zum Schutz indigener Territorien im kolumbianischen Amazonasgebiet. 2021 stiftete er das Hermann-Weber-Stipendium für besonders engagierte Stipendiatinnen und Stipendiaten – eine bislang einzigartige Initiative aus dem Kreis der Alumni.
Feierlich verabschiedet wurde im Rahmen des Festaktes Dr. Thomas Krüggeler, langjähriger Referatsleiter Lateinamerika und stellvertretender Generalsekretär des KAAD. Der Historiker prägte über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg die Arbeit des Referats – durch die enge Zusammenarbeit mit katholischen Universitäten, die kontinuierliche Begleitung der Partnergremien in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Guatemala, Kolumbien und Peru sowie durch den persönlichen Kontakt mit zahlreichen Alumnae und Alumni der Region. In ihrer Würdigung lobte Nora Kalbarczyk seine profunden Kenntnisse der kirchlichen und akademischen Landschaft Lateinamerikas und seine internationale Perspektive auf kirchliche Entwicklungen, Bildungskontexte und globale Zusammenhänge, die weit über das Referat hinaus geschätzt werden.
Den Höhepunkt des Festakts bildete die Verleihung des Preises der KAAD-Stiftung Peter Hünermann an Dr. Ana María Bonet und Prof. Dr. Guillermo Kerz (beide Argentinien) für ihr wissenschaftliches, kirchliches und gesellschaftliches Engagement in den Bereichen der Globalen Gesundheit und der Integralen Ökologie in Argentinien. In ihren Dankesworten sprach Ana Bonet von einer „Ermutigung zum Weitermachen – in Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Guillermo Kerz, Professor für Public Health an der Nationalen Universität Del Litoral in Santa Fe, konnte krankheitsbedingt nicht an der Preisverleihung teilnehmen. In seiner schriftlich übermittelten Dankesbotschaft schrieb er: „Der KAAD hat mein Denken, mein Arbeiten, mein Hoffen geprägt. Diese Auszeichnung nehme ich in Demut und mit Freude entgegen.“ Der Preis wurde ihm einige Tage später nach seiner Genesung in der Geschäftsstelle des KAAD überreicht.
Die Gottesdienste und Gebete bildeten einen integralen Bestandteil der Jahresakademie – als Ausdruck der spirituellen Verbundenheit über Konfessions- und Sprachgrenzen hinweg. So kamen in der „Begegnung im Gebet“ am Freitagabend Stimmen aus orthodoxer, katholischer und protestantischer sowie aus muslimischer, hinduistischer und armenisch-apostolischer Tradition zu Wort. Die vielsprachige Liturgie – mit Gebeten in Albanisch, Ukrainisch, Suaheli, Arabisch und Armenisch – wurde so zum Ausdruck einer weltweiten Gemeinschaft des Glaubens. In seiner Ansprache erinnerte P. Prof. Dr. Ulrich Engel OP daran, dass demokratische Kultur nicht auf Konsens ziele, sondern im produktiven Umgang mit Differenz lebe. Mit Blick auf die politische und geistige Verletzlichkeit demokratischer Strukturen bemerkte er, dass es „unsere Aufgabe als religiös geprägte Menschen [sei], dieses verwundete Herz [der Demokratie] zu heilen.“
Den geistlichen Höhepunkt bildete der internationale Festgottesdienst am Samstagmorgen. P. Dr. Hans Langendörfer SJ zelebrierte die Feier gemeinsam mit P. Prof. Dr. Ulrich Engel OP, P. Prof. Dr. Thomas Eggensperger OP und P. Peter Claver Narh SVD. Die Regionalgruppen aus Afrika, Asien, Lateinamerika, Osteuropa und dem Nahen Osten gestalteten den Gottesdienst mit Lesungen, Gesängen und liturgischen Elementen aus ihren jeweiligen Traditionen. In seiner Predigt griff P. Langendörfer zentrale Themen der Jahresakademie auf. Er ging auf die zerstörerische Kraft von Hass und Ausgrenzung ein und forderte die Gemeinschaft dazu auf, sich den historischen Spuren menschlicher Verirrung zu stellen – dem, was Gewalt, Verachtung und Feindschaft im Lauf der Geschichte hinterlassen haben. Christlicher Glaube, so P. Langendörfer, erschöpfe sich nicht in Zustimmung oder Rückzug, sondern erweise sich dort als tragfähig, wo er zur Auseinandersetzung befähigt und Wege der Versöhnung eröffnet.
Die Internationale Soirée am Samstagabend bildete den Abschluss der Jahresakademie. In Beiträgen aus ihren Herkunftsregionen machten unsere Stipendiatinnen und Stipendiaten auf Themen aufmerksam, die ihre jeweiligen gesellschaftlichen, politischen oder religiösen Kontexte prägen. Die Soirée bot Raum, Erfahrungen zu teilen und Perspektiven sichtbar werden zu lassen – in einer Atmosphäre von Aufmerksamkeit, Offenheit und gegenseitigem Respekt.
Die Jahresakademie machte deutlich, dass demokratisches Handeln dort beginnt, wo Menschen einander zuhören, Erfahrungen teilen und Verantwortung gemeinsam gestalten – in Bildungsprozessen, in geistlichen und gesellschaftlichen Kontexten und über kulturelle und regionale Grenzen hinweg.