Insgesamt 23 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus dem Nahen und Mittleren Osten, Afrika, Asien und Osteuropa setzten sich vom 28. bis zum 31. Oktober 2024in Bonn mit dem Thema „Tabus“ auseinander. Das Konzept des Seminars wurde gemeinsam mit den Geförderten des Nahost-Referats ausgearbeitet und darauf aufbauend von Referatsleiter Nils Fischer, Referentin Santra Sontowski und der studentischen Hilfskraft Anna Güldenring organisiert und begleitet.
Einen grundlegenden wissenschaftlichen Einblick und eine allgemeine Orientierung in der Thematik gab Prof. Dr. Christoph Antweiler, Professor für Südostasienwissenschaft am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. In seinem Vortrag zu „Tabus hier und überall: Anthropologische Aspekte von Tabus“ zeigte er am Beispiel seiner Forschung in Indonesien spezifische Tabus, die in dieser Weise nur dort anzutreffen sind. Er kategorisierte sie und ordnete sie allgemeinen sozialen Universalien zu, v. a. der Orientierung an kleinen Gruppen, zu der er auch den Ethnozentrismus rechnet sowie Nepotismus, üble Nachrede, Übergangsriten, dualistische Gender-Konzepte und Regeln für Geschlechterverhältnisse.
In seiner Einführung in den Workshop umriss Nils Fischer den Themenkomplex aus kulturwissenschaftlich-philosophischer Perspektive und zeichnete anhand des Klassikers „Totem und Tabus“ (1913) von Sigmund Freud die historische Entwicklung der Konzeptualisierung von Tabus und deren Wirkung auf Wissenschaft, Kunst, Kultur und Gesellschaft nach.
Da das Seminar in besondere Weise das persönliche Erleben, Diskutieren und Reflektieren von No-Gos und Tabus zum Ziel hatte, erarbeiteten die Stipendiatinnen und Stipendiaten im Anschluss Themen wie die Partnerwahl, die eigene Körperlichkeit, die Grenzen eines „selbstbestimmten“ Lebens oder das „richtige“ gesellschaftliche Verhalten (beispielsweise bei Einladungen), die Individualität im Kollektiv oder die nationale Identität. Dabei wurden sie von der Graphikerin Verena Gerlach (Berlin) begleitet und entwickelten in Kleingruppen Piktogramme, in denen die eigenen Erlebnisse und Gedanken visuell umgesetzt wurden. Die jeweiligen Zwischenstände wurden im Plenum vorgestellt und Feedback eingeholt. Der Höhepunkt des Seminars bestand in der Präsentation der Workshop-Ergebnisse, bei denen sich zum einen die Bandbreite des Themas zeigte, aber auch, dass das Sprechen über Tabus durchaus eine persönliche Herausforderung sein kann: Zur Thematisierung von Tabus bedarf es Mut, da das Benennen derselbigen eng mit Scham verknüpft ist.
Das Abschlussgespräch leitete Nils Fischer mit einem Referat über nicht-visuelle Dimensionen von Tabus ein. Er wählte dazu den Hörsinn und gab akustische Proben von Tabus aus der Musik- und Literaturgeschichte, beispielsweise der Zwölftonmusik von Arnold Schönberg im Chorstück „Friede auf Erden“, das sich an den Grenzen von Harmonik und Atonalität bewegt und aus dem Bereich der Literatur mit Kurt Schwitters dadaistischem Gedicht „Anna Blume“.
In der Abschlussdiskussion zeigte sich, dass das Wahrnehmen, Ansprechen, Diskutieren und Reflektieren von Tabus für die persönliche und gesellschaftliche Entwicklung wichtig bzw. notwendig sind. Der offene Umgang mit schwierigen oder schambehafteten Themen kann beispielsweise eine ehrliche Kommunikation und soziale Offenheit fördern und Raum für Verständnis, Empathie und Unterstützung schaffen und somit einen Beitrag zu einem friedvolleren Miteinander leisten.
Eine Abwechslung zu dem dichten Seminar- und Workshop-Programm waren die Herbstwanderungen in der Bonner Umgebung um den Venus- und Kreuzberg herum. In den täglichen gemeinsamen Gebeten und im Gottesdienst begleitete P. Prof. Dr. Thomas Eggensperger OP die Gruppe mit Impulsen aus den Psalmen. Aufgrund ihrer dichterischen Form und ihrer historischen Sprache und der damit verbundenen erschwerten Verständlichkeit regten die Psalmen zur Reflexion an – insbesondere, da die in ihnen ausgedrückten Emotionen im Gegensatz zur Sprache verständlich und nah wirkten.
Den Abschluss des Seminars bildetet die Teilnahme an einem multireligiösen Gebet, das unter dem Motto „Faiths United for the Planet“ im Bewusstsein der kollektiven Verantwortung der Religionen für die Zukunft der Welt jeden Donnerstagnachmittag im Bonner Münster stattfindet. An dem gemeinsamen Gebet nahmen die Stipendiatinnen und Stipendiaten, Mitarbeitende aus unserer Geschäftsstelle sowie zahlreiche Bonnerinnen und Bonner teil, um ein gemeinsames Zeichen für Frieden und Versöhnung zu setzen. Das Gebet ist Teil der Kooperationsplattform zwischen der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und der Münsterpfarrei und wurde von Prof. Dr. Klaus von Stosch, Leiter des Bonner Zentrums für Komparative Theologie der Universität Bonn, initiiert. Der KAAD unterstützt dieses Projekt durch Mitwirkung und Teilnahme. Vor dem Hintergrund der weltweiten bewaffneten Konflikte und Kriege ist der KAAD von dem friedensstiftenden Potential von Religion überzeugt, denn ein Auftrag der Religionen liegt darin, das Verbindende zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen zu suchen – um Feindschaften zu beenden, Differenzen zu überwinden und Impulse für ein friedliches Zusammenleben zu setzen.