KAAD-Seminar „Aufarbeitung von Gewalt, Schuld und kollektiven Traumata – eine Annäherung“

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Um sich diesem Thema zu nähern und Gewalterfahrungen in den Heimatländern zu reflektieren, reisten 25 KAAD-Geförderte und Alumni aus 15 Ländern vom 17. bis 21. Mai nach Oświęcim (Auschwitz) in Polen.

Viele KAAD-Stipendiatinnen und Stipendiaten stammen aus Ländern, in denen Gewalt in traumatischer Weise zur Vergangenheit und Gegenwart gehört. Dabei spielt ethnisch motivierter Hass eine zentrale Rolle, der eine Versöhnung zwischen den beteiligten Gruppen oftmals extrem schwierig macht.

Um sich mit der eigenen Gewaltgeschichte auseinanderzusetzen und Wege der Überwindung zu suchen, fand dieses Seminar unter der Leitung von Dr. Marko Kuhn und begleitet von P. Prof. Dr. Ulrich Engel OP und Helen Meier in Oświęcim in Polen statt – unter dem deutschen Namen „Auschwitz“ besser bekannt, ist dieser Name der Inbegriff für menschliche Abgründe und Grausamkeit. Die unterschiedlichen Formen, Inhalte und Funktionen der Erinnerung an Auschwitz haben heute noch große Auswirkungen auf die Beziehungen in und zwischen den Staaten. Darüber hinaus ist die Analyse der dortigen Geschehnisse und ihrer Folgen exemplarisch für den Umgang mit Gewalterfahrungen und ihren Nachwirkungen, somit ist auch diese Stadt ein Ort, an dem die Themen des Seminars auf besondere Weise bearbeitet werden konnten.

Die Analyse des Umgangs mit vergangener Gewalt begann mit einem Vortrag von Paweł Sawicki, Pressereferent und Guide der Gedenkstätte Auschwitz zum Thema „Bewältigung gewaltbelasteter Vergangenheit als Herausforderung”. Sawicki zeigte auf, wie schwierig der Umgang mit dem absoluten Schrecken der Konzentrationslager Auschwitz ist, nicht zuletzt mit zunehmender zeitlicher Entfernung der Geschehnisse. Vor allem moderne soziale Medien und deren Mechanismen bilden dabei eine Herausforderung.

Danach reflektierte Pfarrer Dr. Manfred Deselaers, der seit über dreißig Jahren in Oświęcim lebt und sich dort der deutsch-polnischen und christlich-jüdischen Versöhnungsarbeit widmet, über das „Gedenken als Weg in die gemeinsame Zukunft. Die Arbeit der Kirche an der Gedenkstätte Auschwitz“. KAAD-Alumna und Seminarteilnehmerin Dr. Izabela Drozdowska-Broering bereitete die Gruppe mit ihrem Vortrag zur Geschichte des Lagers Auschwitz und ihrer Bedeutung für Polen und Europa auf die Seminartage vor.

Zentrales Element des Seminars war dann der Besuch der Gedenkstätte des Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau und die Eindrücke, die die Gruppe dort über einen Zeitraum von sieben Stunden sammeln konnte. Es war unmöglich, alle Gefühle und Eindrücke der Besichtigung zu artikulieren und zu analysieren, der abendliche Austausch versuchte trotzdem, dazu einen Anfang zu machen. Am nächsten Tag wurde die Beschäftigung mit den Grauen des Konzentrations- und Vernichtungslagers auf besondere Weise intensiviert durch ein Gespräch mit Zdzisława Włodarczyk. Die nunmehr 89-jährige Frau hat als Kind das Vernichtungslager Birkenau überlebt und von ihren unvorstellbaren Erlebnissen berichtet. Diese sehr emotionale Begegnung war für die Stipendiatinnen und Stipendiaten ein Höhepunkt des Seminars und bildete die Grundlage für die Frage nach den (Un-)Möglichkeiten der Vergebung. Am Nachmittag besichtigte die Gruppe die Stadt Oświęcim und die dortige Synagoge, bevor sie ins benachbarte Dorf Harmęże fuhr, um die Ausstellung der Zeichnungen von Marian Kołodziej zu besuchen, der als Häftling 1940 mit dem ersten Transport in das KZ Auschwitz gebracht wurde und überlebte. Nach Jahrzehnten des Schweigens begann er 1992 nach einem Schlaganfall, seine Erinnerungen an Auschwitz mit Bleistift aus sich ‚heraus zu zeichnen‘. Die dabei entstandenen Bilder rücken immer wieder auch P. Maximilian Kolbe, der in Auschwitz sein Leben für das eines anderen Häftlings gegeben hat, in das Zentrum seiner Auseinandersetzung. Seine verstörenden Zeichnungen im Angesicht der Verachtung von Gott und Mensch ermöglichten vielen einen tieferen Blick in das Ausmaß der Verachtung und Vernichtung und verdeutlichten die „Pflicht der Erinnerung an die Opfer“, die sich die Überlebenden des Konzentrationslagers auferlegt hatten.

Um all diese Eindrücke in die unterschiedlichen Perspektiven, Erfahrungs- und Deutungskontexte der Stipendiatinnen und Stipendiaten zu integrieren, standen die letzten beiden Seminartage im Zeichen der Versuche, Gewalt und Diskriminierung aufzuarbeiten – sowohl auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene, als auch in Hinblick auf eigene Gewaltgeschichten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Den Auftakt bildete ein Vortrag des KAAD-AlumnusProf. Dr. Rafał Riedel (Universität Opole) mit dem Titel „Die Erfahrung von Auschwitz – die Erinnerung an den Holocaust und das kollektive Gedächtnis Europas“. Er zeichnete sieben Zirkel der kollektiven Erinnerung in Europa nach, die von Holocaust, Krieg und Vertreibung aus auch das Gedenken an den Sowjet-Kommunismus und den Umgang mit der Gewalt der Kolonialzeit beinhalten. Aus negativen ‚Gründungsmythen‘ entstand demzufolge ein Einigungsprozess, der in der Europäischen Union und dem friedlichen Zusammenleben eine Erfolgsgeschichte fand.

Die weitere Auseinandersetzung mit den Themen des Seminars gestalteten dann die Teilnehmenden selbst, indem sie nach den Regeln der ‚Open Space Methode‘ in Kleingruppen diskutierten. Gemäß dieser Methode kamen die Unterthemen aus der Gruppe, einzelne Diskutanten übernahmen Verantwortung für ihre Themen und kamen in einen lebendigen Austausch über politische Interessen bei der Aufarbeitung von Geschichte, den Bedingungen von Zusammenleben nach ethnischer Gewalt oder über die Rolle des Globalen Nordens bei Bürgerkriegen im Globalen Süden.

Das Seminar endete mit einem Abschlussgottesdienst, den Manfred Deselaers mit den Teilnehmenden feierte. Er erinnerte in seiner Predigt an die immerwährende Aufgabe, Mensch zu werden und zu sein, selbst unter den schrecklichsten Bedingungen, und auch dann, wenn durch Gewalt und Gräuel versucht wird, Menschen ihrer Menschlichkeit zu berauben.

 

Stimmen der Teilnehmenden des Seminars in Auschwitz (Auszüge, zitiert aus den Rückmeldungen)

Als eine der Überlebenden des Konzentrationslagers in Birkenau ihre Geschichte über die traumatischen Ereignisse erzählte, merkte ich, dass seelische Heilung viel damit zu tun hat, die Geschichte zu erzählen und darin eine eigene Bestimmung zu erkennen. Sie wirkte überraschend stark, als sie zu uns sprach und dies, obwohl sie keine therapeutisch begleiteten Interventionen erhalten hatte. Dieses Seminar war eng verknüpft mit meinem Studium und dem, was derzeit weltweit passiert. Wir hörten alle zu und brachten unsere eigenen Geschichten mit.

Juma Kalyegira, Uganda

                            

Ich hatte Filme wie ‚Schindlers Liste‘ gesehen, aber nichts hätte mich auf die Erfahrung vorbereiten können, den Ort Auschwitz selbst zu besuchen! Wir standen am Eingang des Lagers und betraten eine andere Welt. Unter dem unheimlichen Schriftzug von „Arbeit Macht Frei“, voller bitterer Ironie, begaben wir uns auf eine emotionale Odyssee, die unauslöschliche Spuren in unserer Seele hinterlassen sollte. Unser Guide, erfahren durch unzählige Touren durch diese tragische Landschaft, entfaltete die schrecklichen Chroniken mit einer sanften Berührung, aber der Inhalt seiner Worte fühlte sich wie eisige Tropfen in unseren Kopfhörern an.

Es war es wie eine qualvolle Pilgerreise für uns, die stillen, einsamen Schornsteine zu sehen, die als düstere Denkmäler dastanden, und die Holzbaracken, in denen einst Skelettgestalten untergebracht waren, die ein unmenschliches Dasein ertragen mussten. Über eine Million Unschuldige brutal ausgelöscht!!!! Die Erkenntnis, dass diejenigen, die für die Gaskammern bestimmt waren, sich ihres bevorstehenden Endes bis zum allerletzten Augenblick nicht bewusst waren, war eine Offenbarung, die mich zutiefst traf und eine Narbe in meinem Inneren hinterließ. Am nächsten Tag hörte ich Zdzisława Włodarczyk zu, einer Überlebenden des Lagers, jetzt 90 Jahre alt, und als ich ihre Geschichte hörte, verstand ich besser, was passiert ist. Es war ernüchternd und herzzerreißend.

Da ich in Simbabwe aufwuchs und eine tiefe Verbindung zu Ruanda habe, war mir nicht fremd, wie unmenschlich Menschen zueinander sein können. Doch als ich innerhalb der schrecklichen Mauern von Auschwitz-Birkenau stand, starrte ich direkt in die kalten Augen des Bösen. Warum? Wie könnte eine Seele solch giftigen Hass hegen, um so unvorstellbare Schreckenstaten an ihre Mitmenschen zu begehen?

Adio Dinika, Simbabwe

 

Ich hatte wirklich das Gefühl, dass die Erde zu uns spricht und die Luft uns von der Qual erzählt, die hier herrschte. Der Besuch in Auschwitz gab uns die Möglichkeit, Konflikte mit einem umfassenderen Blick zu sehen. Wir blicken jetzt anders auf die Konflikte in unseren Ländern und auf der ganzen Welt und erkennen, wohin unser Groll und Hass führt und wie er ein Feuer entfacht, das alle verbrennt. Auschwitz erinnert uns daran, wie schmerzhaft diese Erinnerungen sind und wie schön es wäre, wenn wir in dieser Welt in Liebe und Frieden leben würden, in der der Andere akzeptiert wird ungeachtet seines Aussehens, seiner Rasse, seines Glaubens und seiner Überzeugungen ... damit wir nicht in das hineinfallen, was die Menschen in Auschwitz getan haben und in das so viele Menschen auf der Welt heute hineinfallen.

Adele Isber, Syrien

 

Dieses Seminar, mein Besuch im Konzentrationslager und der Synagoge in Oświęcim, die Betrachtung der Kunstwerke von Marian Kołodziej und das Hören der Geschichte der Überlebenden Zdzisława Włodarczyk haben meinen Blick in die dunkle Seite der Menschheit und die Schrecken des Holocaust vertieft. Das Ausmaß der Gräueltaten verdunkelte meine Seele, während die Geschichte von Maximilian Kolbe herzerwärmend war.

Abel Yonas, Äthiopien

 

Ich kam zu diesem Seminar mit wenig Wissen über das Leid, das die Menschen während des Nazi-Regimes erfahren mussten. Ich hatte ein Buch mit dem Titel „Man's Search for Meaning“ gelesen und einige Videos auf YouTube gesehen. Aber als ich solch schreckliche Erinnerungen vor mir sah und einige Orte berührte, konnte ich nur fragen: „Wie, wie, wie??“ … Was mich beeindruckte, war etwas über eine andere Art von Opfer zu erfahren, nämlich über das „Sonderkommando“, das keine andere Wahl hatte zu sagen „Nein, das kann ich nicht“. Sie waren gezwungen, den Befehlen der Mörder zu folgen, um zu überleben. Ich fragte mich, wie ich jeden Tag mit dem Gefühl leben würde, Teil von all dem gewesen zu sein. Ich war auch zutiefst traurig über den Gedanken, dass die Opfer keine Gräber oder individuellen Gedenkstätten hatten, die ihre Familien besuchen könnten.

Andererseits war ich auch berührt, wie stark die Überlebenden waren, all diese Erinnerungen in einem Museum aufzubewahren und die Botschaft, was hier passiert ist, in die ganze Welt zu tragen. Die Begegnung mit der Überlebenden Zdzisława Włodarczyk zeigte mir, was es bedeutet, dass sie zwar vergeben hat, aber nie vergessen wird.

Sabreen Dawoud, Ägypten

 

Ein Besuch in Auschwitz ist ein unglaubliches Erlebnis, das sich nicht mit Worten beschreiben lässt. Wenn man durch die Korridore geht, durch die verrosteten Eisentore blickt und die Überreste persönlicher Besitztümer der Gefangenen wie Schuhe, Kleidung, Zahnbürsten und Brillen sieht, entsteht eine emotionale Verbindung, der man sich nicht entziehen kann. Als Vater von drei Jungen unter zehn Jahren fühlte ich mich machtlos, als ich die Kleidung der Kinder betrachtete, die hier eingesperrt waren.

Die Erfahrung erinnert an die schlimmsten Eigenschaften der Menschheit und zeigt, wie wichtig es ist, weiterhin daran zu arbeiten, solche Gräueltaten in Zukunft zu verhindern, insbesondere in meinem eigenen Land. Ich bin KAAD dankbar, dass er mir die Gelegenheit gegeben hat, Auschwitz zu besuchen und tiefer zu verstehen.

Ashenafi Woldemichael, Äthiopien

 

Als Kind hatte ich kaum Informationen über Auschwitz, obwohl ich in Äthiopien, einem vom Krieg zerrissenen Land, aufgewachsen bin. Und obwohl ich später auch Literatur dazu gelesen und Dokumentationen über den Holocaust gesehen hatte, wurde mir das Ausmaß erst bewusst, als ich den Ort persönlich besuchte. Ich bin dem KAAD sehr dankbar, dass er mich dazu inspiriert hat, dies in einer Gemeinschaft mit anderer Stipendiatinnen und Stipendiaten zu tun.

Es ist schwer zu verstehen, dass diese unermessliche Brutalität erst wenige Jahrzehnte her ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir als ‚global citizens‘ aufmerksamer auf das achten müssen, was um uns herum geschieht, und unsere Macht nutzen müssen, um den Frieden zu fördern und Gräueltaten zu verhindern. In Ländern Afrikas oder Asiens kommt es immer noch zu brutalen Taten, sogar zum Völkermord, und die anhaltenden Brutalitäten in der Ukraine sind aktuelle Beispiele dafür. Ich selbst habe die Brutalität und die Qual dessen gespürt, was in meiner Heimat passiert ist. Dieses Seminar brachte viele zusammen, die diese Erfahrung teilten, und es bot uns eine Plattform, um über die Fehler der Menschheit in der Vergangenheit nachzudenken und unsere Kraft zu nutzen, um das Bewusstsein für Menschenrechte und Vergebung in unseren jeweiligen Ländern zu verbreiten.

Getahun Weldu, Äthiopien