KAAD-Seminar: „Dekolonialisierung und Kontextualisierung von Bildung in afrikanischen Ländern“

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Die Kolonialzeit liegt in den meisten afrikanischen Ländern schon sechzig Jahre zurück. Dennoch hat sie mächtige Nachwirkungen nicht nur bei Infrastruktur und wirtschaftlichen Strukturen, sondern auch in den Köpfen der Menschen.

 

Machtgefüge, Entfremdungen, Narrative einer weißen Überlegenheit sind häufig daraus resultierende Folgen und auch die christliche Mission hat hier eine sehr problematische Rolle gespielt, indem sie Elemente traditioneller afrikanischer Kultur buchstäblich verteufelt hat. An wenigen Stellen zeigt sich aber die mangelnde De-Kolonialisierung so sehr wie in den Lehrplänen afrikanischer Schulen und Bildungseinrichtungen. Das KAAD-Seminar, das unter der Leitung von Dr. Marko Kuhn und begleitet von P. Prof. Dr. Ulrich Engel OP und Miriam Rossmerkel vom 04. bis zum 07. Dezember im Franz-Hitze Haus in Münster stattfand, wollte Jahrzehnte nach dem Ende der Kolonialzeit nun fragen: Welchen Erfolg haben diese Bewegungen gehabt? Inwiefern ist es herrschenden Eliten vielleicht bis heute nützlich, koloniale Traditionen aufrechtzuerhalten? Wieviel der kolonialen Rassentheorie ist heute noch in den Köpfen der Menschen und wie kann verhindert werden, dass dies an die nächste Generation tradiert wird? Wie kann mit Klischees aufgeräumt werden und welche Narrative können den kolonialen „Brauchtümern“ entgegen gesetzt werden, um Bildung zu einem positiven und konstruktiven Element der Zukunft Afrikas werden zu lassen? Bei diesen Fragen rückte nicht nur die (Primar- und Sekundar-) Schulbildung in den Fokus, sondern auch wissenschaftliche, akademische Traditionen, die den Alltag an den Universitäten und somit die Realität der KAAD-Stipendiatinnen und Stipendiaten prägen.

In verschiedenen Gruppenarbeiten, Teilnehmerreferaten und unter der fachlichen Expertise der beiden Referenten Dr. Boniface Mabanza und Dr. John Mugo wurden neokoloniale Strukturen, geopolitische Machtverhältnisse und koloniale Einflüsse auf die afrikanischen Bildungssysteme erörtert und Lösungsansätze besprochen. Boniface Mabanza, Koordinator der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika (KASA) in Heidelberg, betreibt Recherche und Information, Bildungs- und Kampagnenarbeit zu Themen sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit, Handelspolitik, Kultur und Bildung im Zusammenspiel afrikanischer Gesellschaften und europäischer Geber. Außerdem arbeitet er als Trainer für Entwicklungspolitik und Antirassismus und berät dabei Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit. Seine Präsentation zielte unter anderem auf den komplizierten Sachverhalt der kolonialen Sprachen ab und bezog sich auf den senegalesischen Philosophen Felwine Sarr, der eine Rückkehr zu afrikanischen Sprachen als Weg dazu aufzeigt, nicht nur den Geist und die Fantasie zu entkolonialisieren, sondern auch innere Welten und Bedeutungskontexte zu öffnen, die den Afrikanern vertraut sind. Demzufolge eröffnet Sprache „Galaxien, Universen und Welten“ und bietet den bestmöglichen Zugang zu den entsprechenden Kulturen und ihren geistigen Inhalten und Wissensformen. Immer wieder bezog er sich in seinem Vortrag auch auf die wirtschaftlichen und handelspolitischen Grundlagen von Dekolonialisierung und dem Bemühen, sich neokolonialen Strukturen entgegenzustellen, ohne dabei die Bedeutung von förderlichen Handelsströmen zu vergessen. Dabei standen vor allem die Chancen und Hürden der neuen afrikanischen Freihandelszone African Continental Free Trade Area (AfCFTA) im Zentrum. Neben dem Blick auf die Sprache nahm Boniface Mabanza dann auch die Inhalte der Curricula in den Blick und stellte die Frage, durch welche „Brillen“ Forschung betrieben wird und wie sie so gelenkt werden kann, dass vulnerable Bevölkerungsgruppen (vor allem vor dem Hintergrund des Klimawandels) wirklich gehört und die ͵Policy’-Empfehlungen für sie relevant werden. Mit der Wissens-/Erkenntnis-Produktion beschäftigte sich auch der Kurzvortrag der Seminarteilnehmerin Sonya Tesfaye aus Äthiopien, die versuchte, Wege für die Entstehung einer indigen afrikanischen Epistemologie aufzuzeigen, die die philosophisch weltanschaulichen Paradigmen der Kolonialzeit überwindet. Auch der Kurzvortrag von Jonathan Doe aus Ghana bezog sich auf das indigene/traditionelle Wissen (͵Ancestral Knowledge’) in afrikanischen Gesellschaften und wie Erkenntnisse aus Beobachtung und Erfahrung mit in die Wissenschaft einbezogen werden können und müssen. Er erklärte, dass in der Kolonialzeit präserviertes und erlangtes Wissen (in Kolonialmuseen, Zoos und Botanische Gärten) heutigen afrikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ebenso zugänglich gemacht werden müsse wie dies bei der Restitution von in der Kolonialzeit entwendenden Kunstwerken und Artefakten der Fall ist.

Auf die Lehrpläne bezog sich dann auch die Teilnehmerin Chemwi Mutiwanyuka aus Simbabwe, indem sie in einem Kurzvortrag von ͵hidden curricula’ sprach und auf die Hierarchien in den Schulen, den Dresscode (Schuluniformen) oder die Kultur und Sportangebote, in denen sich immer noch sehr viele Relikte kolonialen Denkens finden, einging.

John Mugo, der Referent des zweiten Hauptvortrags, ist Geschäftsführer der Zizi Afrique Foundation mit Sitz in Nairobi, Kenia. Er forscht und arbeitet zu pädagogischen Themen wie dem grundlegenden Lernen und Empowerment sowie der Bewertung von Kernkompetenzen und Werten. Er ist auch der Vorsitzende des KAAD-Partnergremiums in Nairobi. Sein über ein digitales Medium gehaltener Vortrag rief zu einer Bewegung weg vom eurozentrischen und hin zum afrozentrischen Wissen und zu einer Freiheit auf, afrikanische Werte, Überzeugungen und Ideologien zu propagieren, auch wenn damit in manchen Fällen das Risiko verbunden ist, keine Forschungsgelder von Gebern aus dem globalen Norden zu erhalten. Er plädierte aber nicht dafür, sich vom „westlichen“ Wissen zu entfernen, sondern für eine Beseitigung der Dominanz dieses Wissens, das das alternative und kontextualisierte Wissen aus dem Lehrplan ausschließt. Das Ziel sei, Afrika selbst in den Mittelpunkt der afrikanischen Bildungsinhalte zu rücken und deren Bedeutung für die Förderung der afrikanischen Entwicklung anzuerkennen. Gleichzeitig zeigte er aber auch auf, wo seiner Meinung nach die Grenzen des Dekolonisierungs-Paradigmas sind, nämlich dort, wo es sich selbst als absoluten Wert setzt, die Notwendigkeit globaler Bildungsinhalte konterkariert und es Schülerinnen und Schülern unmöglich macht, später in einer globalisierten Bildungs-Szenerie zu bestehen. Für John Mugo sind intra-afrikanische (‚süd-süd‘) Kooperationen genauso ein exzellenter Weg in die Zukunft wie das Auftreten afrikanischer Akademikerinnen und Akademiker, die zeigen, dass sie gleichberechtigte Gegenüber sind und es verdienen, als solche anerkannt zu werden.

Immer wieder zeigte sich, dass die Notwendigkeit der Dekolonisation von Bildung, Handel und Kultur mit der Erfordernis in Konflikt geraten kann, dass afrikanische Länder ihre öffentlichen Angelegenheiten besser managen, wozu besonders Schulen und Bildungseinrichtungen gehören. Die Teilnehmenden nahmen immer wieder Bezug auf diesen Zusammenhang und so kam die Frage auf, ob das größte Problem afrikanischer Gesellschaften heute eine mangelnde Dekolonisierung oder ein schlechtes Management sei. Der Kurzvortrag von Sharon Mada aus Simbabwe ging beispielsweise auf diese Spannung ein. Die Stipendiatin zeigte auf, wie nach der Unabhängigkeit ihres Landes Lehrpläne und -institutionen ‚entstaubt‘ wurden („practical application to be used to solve real-life problems”). Dennoch ist heute vielen Schülerinnen und Schülern in ländlichen Gebieten der Zugang zu guter Bildung aufgrund des mangelnden Einsatzes von öffentlichen Geldern verwehrt. Sharon Mada belegte dies in ihrem Vortrag durch Bilder von abgelegenen Dorfschulen, die oft in einem extrem schlechten Zustand sind. In den sehr lebhaften Diskussionen des Seminars kam immer wieder zur Sprache, dass es kein Antagonismus bleiben dürfe, ob Dekolonisation vor gutem Management den Vorrang habe. Vielmehr müssen Dekolonisation und Management die Wege in eine bessere Zukunft für die Bildungssysteme Afrikas sein.

Zu jedem KAAD-Seminar gehört auch eine Gottesdienst, der dieses Mal von P. Ulrich Engel geleitet und von Elementen afrikanischer Kirchenmusik geprägt war. Mitzelebranten waren der Priester James Musana aus Uganda, eben erst in Erziehungswissenschaft promoviert, und der äthiopische Priester und Stipendiat Tesfaye Petros.

Die Exkursion des Seminars führte dieses Mal auf Spuren der Kolonialzeit und kolonialer Ideologien im Stadtbild von Münster: dem ehemaligen Zoo als Ort der heute unvorstellbar rassistischen „Völkerschauen“, dem „Train-Denkmal“ und der langjährigen Kontroverse um die Glorifizierung von Soldaten, die im kolonialen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama mitwirkten und schließlich zu Gebäuden der alten Universität mit einem Blick auf das ehemalige Cluster „Kolonialstudien“ und die wechselvolle Geschichte des Fachs „Missionswissenschaften“. Einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten hierfür Informationen aufbereitet und trugen diese der Gruppe vor.

Die Quintessenz des Seminars kann in den Worten des Stipendiaten Gordon Dakuu aus Ghana heißen: „Dekolonisierung ist ein Prozess, kein einmaliges Ereignis. Er kann auch nicht an einem Punkt als abgeschlossen deklariert werden, sondern muss als Prozesses immer wieder reflektiert werden. Es ist wichtig, sich trotz vieler innerer (‚decolonizing the own mind‘) und äußerer (‚who is driving the agenda?‘) Widerstände nicht entmutigen zu lassen.“