Lateinamerika und die Karibik sind seit der Phase der Eroberung im 15. und 16. Jahrhundert eine von Gewalt gezeichnete Weltregion. Die von den europäischen Invasoren etablierten Unterdrückungssysteme legten die Basis für Ungleichheit, Ausbeutung, Repression und Widerstand, die vielerorts und besonders auf regionaler und lokaler Ebene bis heute fortbesteht. Verwickelt in die entstehenden Strukturen war von Beginn an die katholische Kirche, die zum einen die religiöse Legitimierung der Eroberung lieferte und zum anderen in der Praxis den Schulterschluss mit den Mächtigen suchte. Im Zentrum des Seminars, das mit 22 Teilnehmenden aus Argentinien, Brasilien, Kolumbien, Mexiko und Peru und unter der Leitung von Dr. Thomas Krüggeler vom 26. bis zum 29. November 2024 in Mülheim an der Ruhr stattfand, stand daher das Verhältnis zwischen Gewalt und katholischer Kirche in der Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas.
Prof. Dr. Pedro Guibovich von der Katholischen Universität in Lima (Pontificia Universidad Católica del Perú) skizzierte (digital zugeschaltet) frühkoloniale Debatten darüber, ob afrikanische Sklaven und Indigene eine Seele hätten (und somit menschliche Wesen seien) oder nicht und insistierte darauf, solche Auseinandersetzungen im historischen Kontext zu beurteilen. Unter dem Druck wirtschaftlicher und politischer Interessen gerieten Versuche, die theologischen Inhalte der Missionierung auch rechtlich abzusichern, oft in den Hintergrund.
Weitere Beiträge nahmen die Gewaltproblematik und das Verhalten der Kirche ihr gegenüber in konkreten Kontexten in den Blick. So zeigte der aus Argentinien stammende Kirchenhistoriker PD Dr. Federico Tavelli (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) eindrücklich auf, dass der argentinische Klerus während der Militärdiktatur (1976-1983) zunächst in der typischen Denkweise gefangen war und dass es primäres Ziel der Kirche sein müsse, alles „Kommunistische“ zu bekämpfen. Bischöfe und Priester lernten nur langsam, dass man Menschenrechte dem Staatsterror nicht unterordnen darf. Er präsentierte den Zuhörern auch das dreibändige Werk „La verdad los hará libres“ („die Wahrheit wird Euch befreien“), welches er mitherausgegeben hat und das 2023 in Argentinien erschienen ist. Die Bände versuchen auf der Basis von Studien in Vatikan-Archiven, die Rolle der Kirche während des Kalten Krieges und der Militärdiktatur in Argentinien aufzuarbeiten.
Ebenso beachtenswert waren fünf Teilnehmerreferate, die auf hohem Reflexionsniveau das Dilemma von Kirche und Gewalt in der Gegenwart präsentierten. In zwei Referaten zeigte sich, wie tief Drogenproduktion und -handel in Kolumbien und Mexiko die Volksreligiosität durchdrungen haben: so waren etwa einzelne Priester bereit, mit „Narcos“ zu kooperieren (Schenkung von Immobilien und Kirchengebäuden) und Sozialprojekte von Drogenhändlern werden von der Bevölkerung durchaus wertgeschätzt.
Abschließend thematisierten die Teilnehmenden die Gewaltfrage in der Befreiungstheologie. Unzweifelhaft haben sich seit den 1960er Jahren Priester aktiv Guerilla-Bewegungen angeschlossen (nicht nur der bekannte kolumbianische Priester Camilo Torres), jedoch zeigten die Referate ein sehr komplexes Bild des Themas. Es gibt unterschiedliche Arten von Gewalt, von denen einige verwerflicher sind als andere. Sogar im Falle gerechtfertigten Widerstands gegen Unterdrückung muss das Ziel die Gewaltlosigkeit sein („no-violencia como fin“).
Ein gemeinsamer Gottesdienst, der von P. Prof. Dr. Thomas Eggensperger OP, geistlicher Beirat des KAAD, zelebriert und musikalisch von den Stipendiatinnen und Stipendiaten vorbereitet und mitgetragen wurde sowie eine fachkundige Führung auf der Zeche Zollverein und ein Besuch des Essener Weihnachtsmarktes rundeten ein intensives und lebhaftes Seminar ab.