„Kippt der Osten? Zur politischen Situation im Osten Deutschlands"

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Webinar von KAAD und Görres-Gesellschaft am 28. November 2024

Die Universitätsstädte und Hochschulstandorte in Ostdeutschland haben eine große internationale Attraktivität ausgebildet, wodurch sie viele Studierende aus der ganzen Welt anziehen, die hier englischsprachige Masterstudiengänge belegen können. Beispielhaft hierfür ist die renommierten Willy-Brandt School of Public Policy in Erfurt oder die Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg, etwa mit den Studiengängen World Heritage Studies oder Erneuerbare Energien. In einem Zeitraum von fünfzehn Jahren hat sich die Anzahl der internationalen Studierenden in Thüringen vervierfacht, in den anderen Bundesländern fast verdoppelt. Zudem stehen Berlin, Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt an der Spitze der Bundesländer mit dem höchsten Anteil an internationalen Studierenden.

Vor diesem Hintergrund veranstaltete der KAAD zusammen mit der Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaften ein Webinar zur politischen Situation in Ostdeutschland, um Information und Austausch zu ermöglichen.

Als Referent dieses Abends, an dem mehr als 35 Personen teilnahmen, konnte Dr. Thomas Arnold gewonnen werden, der bis zum Frühjahr dieses Jahres als Direktor der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen tätig war. Unter anderem ist Thomas Arnold Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und im Sachausschuss für politische und ethische Fragen.

Thomas Arnold schilderte vorwiegend die Situation im Freistaat Sachsen, der seit den Landtagswahlen am 1. September 2024 eine Phase der politischen Unsicherheit durchlebt. Den Tag der Veranstaltung bezeichnete Thomas Arnold als „historisch“, habe sich doch just entschieden, dass Sachsen wohl von einer Minderheitsregierung aus CDU und SPD regiert werden würde. Dies bedeute auch, dass Sachsen auf eine Phase der politischen Unsicherheit zusteuere. 

Thomas Arnold beließ es gleichwohl nicht bei tagespolitischen Analysen, sondern spannte einen weiten Bogen hin zu den Ursachen der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung und politischen Krise. So konstatierte er, dass die Parteienbindung im Osten Deutschlands insgesamt sehr niedrig sei, was eine gewisse Volatilität zur Folge hätte. Dies sei insbesondere angesichts des starken Abschneidens extremer Parteien bei den Wahlen zu erkennen gewesen. Die Wähler dieser Parteien müssten für die demokratische Mitte zurückgewonnen werden, die AfD müsse inhaltlich gestellt und mit ihr gestritten werden. 

Dass mehr als dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung die Unterschiede zwischen Ost und West eine immer größere Rolle spielen, erläuterte Thomas Arnold anhand mehrerer Beispiele. So sei Sachsen angesichts der massiven Abwanderungsbewegungen seit den 1990er Jahren das vom demografischen Wandel in Deutschland am meisten betroffene Land. Die zurückbleibende Bevölkerung perpetuiere eher das demografische Problem. Verstärkt würden die Ost-West-Differenzen, die sich beispielsweise auch in der Beliebtheit aktueller Publikationen zeigten (Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung; Steffen Mau: Ungleich vereint; Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock), durch das tiefe Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen, das in der Corona-Pandemie stark angewachsen sei. 

Thomas Arnold forderte, dass Menschen in Ost- wie in Westdeutschland einen gemeinsamen Horizont für ihr Land entwickeln müssten. „Wer sind wir in diesem geeinten Land?“ müsse die zentrale Frage dabei werden. Es genüge nicht, Verständnis für die Geschichte des jeweils anderen zu entwickeln, vielmehr müsse der Blick in die Zukunft gerichtet sein: „Was ist dabei unsere gemeinsame Vision?“, so Thomas Arnold. 

In der anschließenden von Dr. Nora Kalbarczyk moderierten Diskussion wurde diese Frage aufgegriffen und kritisch vom Erfurter Theologen und Philosophen Prof. Dr. Eberhard Tiefensee angemerkt, dass Deutschland mental keine Einheit bilde und das Verständnis einer gemeinsamen Geschichte illusionär sei. Ein weiterer Diskussionsbeitrag widmete sich der Aufarbeitung der Corona-Pandemie und stellt die Forderung nach Etablierung eines Untersuchungsausschusses. Thomas Arnold warnte indes davor, die Corona-Pandemie in Form eines „Tribunals“ aufarbeiten zu wollen, dies schade letztlich dem gesellschaftlichen Miteinander. 

Mit Blick auf die Ausgangsfrage „Kippt der Osten“ resümierte Thomas Arnold, dass die Mechanismen der Demokratie in Ostdeutschland funktionieren, unsere Gesellschaft sich jedoch nicht von alleine gestalte, sondern insbesondere im vorpolitischen Raum mitgestaltet werden müsse. Dazu seien alle gesellschaftlichen Akteure und letztlich alle Menschen aufgerufen.

Dr. Thomas Arnold

Dr. Nora Kalbarczyk

Prof. Dr. Eberhard Tiefensee