„Kultur, Religion und Entwicklung“: Bildung und Verantwortung in einer multipolaren Welt

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In diesem virtuellen KAAD-Seminar stand die Frage im Raum, was Bildung in Zeiten globaler Umbrüche zu gemeinsamer Orientierung und verantwortlichem Handeln beitragen kann.

Mit dem Online-Format „Kultur, Religion und Entwicklung“ bietet der KAAD mehrmals im Jahr Raum für den Austausch über Themen, die Bildung, Wissenschaft und gesellschaftliche Verantwortung verbinden. Initiiert und geleitet wird die Reihe von Nils Fischer, Referatsleiter Naher und Mittlerer Osten, der sie als Plattform für den interdisziplinären Austausch konzipiert hat. Im Rahmen dieser Reihe sprach Prof. Dr. Andreas Bürkert, Leiter der Sektion für Ökologischen Pflanzenbau und Agrarökosystemforschung in den Tropen und Subtropen an der Universität Kassel über „Neue Herausforderungen für die internationale Bildung in einer multipolaren Welt“. Seit vielen Jahren ist er dem KAAD durch gemeinsame akademische Anliegen und den Austausch über Fragen globaler Bildungszusammenarbeit eng verbunden.

Ausgangspunkt seines Vortrags war die Beobachtung, dass Armut, infrastrukturelle Defizite, starkes Bevölkerungswachstum und schwache Regierungsstrukturen zu den zentralen Herausforderungen vieler afrikanischer Länder gehören. Anhand von Beispielen aus Ghana und Niger zeigte Andreas Bürkert, wie diese Faktoren in komplexer Weise mit Migration, Ressourcennutzung und globalen Abhängigkeiten verknüpft sind. Der illegale Goldabbau in Westafrika – etwa der sogenannte ‚Galamsey‘ in Ghana – sei Ausdruck einer tiefen sozialen und ökologischen Krise: zerstörte Böden, verschmutzte Flüsse, Landverlust und ungleiche Gewinnverteilung gehörten ebenso dazu wie der Druck internationaler Märkte. Andreas Bürkert veranschaulichte die Auswirkungen dieser Entwicklungen mit Bildern aus seinen Forschungsprojekten im Sahel. Übernutzung, Erosion und Bodenverarmung führen in vielen Regionen zur Zerstörung der Lebensgrundlagen und in der Folge zu Migrationsbewegungen, die wiederum neue Konflikte hervorrufen. In diesem Spannungsfeld werde deutlich, dass Bildung und Forschung eine zentrale Rolle für nachhaltige Entwicklung spielen: Sie müssten Wissen mit Verantwortungsbewusstsein verbinden und jungen Menschen Wege eröffnen, ihre Zukunft und die ihrer Heimatländer zu gestalten.

In seiner Analyse weitete Andreas Bürkert den Blick über Afrika hinaus. Die zunehmende Multipolarität der Welt, in der China, Russland und andere Akteure neue Allianzen in Afrika und Asien bilden, stelle auch die westlichen Modelle von Entwicklung, Demokratie und Partnerschaft infrage. Vor dem Hintergrund, dass sich auch westliche Werte nicht in allen Bereichen bewährt haben, sprach er von einer „postkolonialen Krise westlicher Werte und Institutionen“ und warnte vor einer rein ökonomischen Sichtweise auf Kooperation. Stattdessen brauche es ein neues Verständnis von Partnerschaft, das nicht in Belehrung, sondern in gemeinsamem Lernen wurzelt. Forschung müsse sowohl geografische als auch disziplinäre Grenzen überschreiten und zugleich lokal verankert bleiben. Wirklich tragfähige Lösungen entstünden im Dialog mit den Menschen vor Ort.

In der anschließenden Diskussion zeigte sich die Vielfalt der Perspektiven, die das KAAD-Netzwerk prägt: Teilnehmende aus Lateinamerika, Osteuropa, dem Nahen und Mittleren Osten und Asien sprachen über die Spannungen zwischen ökonomischem Wachstum, sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verantwortung. Besonders aus Ländern des Globalen Südens kamen eindringliche Beiträge zu den Folgen von Landraub, Umweltzerstörung und extraktivistischen Wirtschaftsmodellen. Immer wieder wurde gefragt, wie sich nachhaltige Entwicklung verwirklichen lässt, wenn politische und wirtschaftliche Machtstrukturen von kolonialen Mustern geprägt bleiben.

Andreas Bürkert nahm diese Impulse auf und plädierte für eine selbstkritische Haltung des Globalen Nordens. Verantwortung beginne, so betonte er, mit der Anerkennung der eigenen Rolle in globalen Ungleichheiten, etwa im Ressourcenverbrauch, in der Klimapolitik oder in der Gestaltung von Bildungskooperationen. Zugleich unterstrich er die Notwendigkeit, lokale Wissensformen ernst zu nehmen und Bildung nicht nur als technisches, sondern als ethisches Projekt zu verstehen. Bildung müsse Menschen befähigen, ihr Umfeld zu gestalten, und zugleich Offenheit für andere Perspektiven wecken.

Im Verlauf der Debatte verdichtete sich die Einsicht, dass internationale Zusammenarbeit ohne gegenseitiges Lernen nicht bestehen kann. Mehrfach wurde betont, dass Forschung und Lehre sich der Lebenswirklichkeit der Menschen zuwenden müssen und dass ‚Stewardship‘, also Verantwortung für Land, Gemeinschaft und Zukunft, ein gemeinsames Leitmotiv bleiben sollte. Andreas Bürkert sprach in diesem Zusammenhang von der ‚Bildung des Herzens‘: Wissenschaft müsse nicht nur Wissen mehren, sondern Charakter bilden.

Mit 77 Teilnehmenden aus 26 Ländern – unter ihnen viele Promovierende aus dem Globalen Süden – wurde deutlich, dass internationale Zusammenarbeit im KAAD-Netzwerk von persönlichem Engagement und institutioneller Unterstützung gleichermaßen lebt. Nils Fischer brachte dies im Sinne der Arbeit des KAAD auf den Punkt: Erst das Zusammenspiel beider Ebenen eröffnet die Perspektive auf eine für alle bessere Welt:  die Sorge für das gemeinsame Haus („Laudato Si’“). Daran anschließend betonte Andreas Bürkert die Bedeutung lokaler Verantwortung: Wissenschaftliche Erfahrung könne Anregungen geben, doch tragfähige Lösungen entstünden immer im Austausch mit den Menschen vor Ort, die von den jeweiligen Herausforderungen unmittelbar betroffen sind. Zum Abschluss erinnerte er an Persönlichkeiten wie Jomo Kenyatta, Julius Nyerere und Nelson Mandela, die beispielhaft für eine Bildung im Dienst des Gemeinwohls stehen. Bildung, so Andreas Bürkert, müsse nicht nur Fachleute, sondern Persönlichkeiten und künftige Führungskräfte hervorbringen, die Verantwortung für eine gerechtere Welt übernehmen. In der Diskussion zeigte sich, dass internationale Zusammenarbeit dort an Tiefe gewinnt, wo sie über institutionelle Strukturen hinaus persönliche Verantwortung und gegenseitiges Verstehen einschließt.

Screenshot der Power-Point-Präsentation, Startseite, von Prof. Bürkert
Screenshot während der Veranstaltung, im Bild zahlreiche Teilnehmenden
weiterer Screenshot von der Veranstaltung, im Bild zahlreiche andere Teilnehmenden