Syrien

Rimon Wehbi

Rimon Wehbi stammt aus Maalula, einem christlichen Dorf in Syrien und einem der letzten Orte der Welt, wo noch West-Aramäisch gesprochen wird, die Sprache, die einmal die ‚lingua franca‘ des Nahen Ostens war und in der auch Jesus gepredigt hat. In seiner Kindheit erzählte sein Großvater ihm und seinen Geschwistern oft Geschichten auf Aramäisch, die Rimon Wehbi mit einem Kassettenrecorder aufzeichnete. „Als Kind wollte ich einfach nur die Geschichten festhalten und immer wieder anhören können.“ Als Erwachsener wurde ihm zunehmend die Besonderheit der aramäischen Sprache bewusst – und die Gefahr, dass sie als lebendige Sprache ausstirbt.

Diese Bedrohung wurde im Jahr 2013 besonders deutlich, als Jabhat al-Nusra – eine al-Qaida nahe stehende dschihadistische Miliz – Maalula einnahm, viele Menschen tötete und das Dorf weitreichend niederbrannte und zerstörte. Die Mehrheit der ursprünglich 10.000 Einwohner floh vor den Dschihadisten. Das Dorf wurde zwar 2014 von syrischen Regierungstruppen zurückerobert, doch viele der Einwohner kamen nie zurück, sondern blieben lieber im Exil – etwa im Libanon oder in anderen arabischen oder europäischen Staaten. Manche zogen auch ins 56 km entfernte Damaskus, wo sie sich sicherer fühlen, aber hauptsächlich Arabisch sprechen. Die Flucht und weltweite Zerstreuung der Muttersprachler des West-Aramäischen könnte das Ende dieser Sprache zusätzlich beschleunigen. In der Diaspora, so Schätzungen von Experten, überlebt eine Sprache nur zwei Generationen.

Angesichts dieser Situation suchte Rimon Wehbi nach Möglichkeiten, ein Studium der Semitistik zu beginnen. Dazu traf er sich mit Prof. Dr. Werner Arnold, einem der führenden Experten für Aramäisch, als dieser auf einem Forschungsaufenthalt in Beirut war. Auf dessen Rat hin bewarb sich Rimon Wehbi für ein KAAD-Stipendium zum Master-Studium der Semitistik an der Universität Heidelberg: „Ich hatte bereits einen Bachelor in Wirtschaftswissenschaften von der Universität Damaskus, doch für ein Master-Studium der Semitistik fehlten mir zunächst viele linguistische Grundlagen. Mit der Unterstützung der Dozenten konnte ich mir diese jedoch rasch aneignen.“ Rimon Wehbis Erzählung ist geprägt von der Wissbegierde, sich mit der eigenen Muttersprache wissenschaftlich auseinanderzusetzen, über die zudem viel deutschsprachige Literatur existiert. Mit den erworbenen Deutschkenntnissen konnte er diese nun rezipieren. Anfang 2018 schloss er das Studium der Semitistik mit einer Arbeit über „Die Aramäischen Wassermühlen in Maalula“ mit der Note ‚sehr gut‘ (1,3) ab und kehrte bald darauf – trotz der widrigen Lebensumstände – nach Syrien zurück.

„In Maalula leben derzeit vielleicht 1.000 Menschen. Die Kirchen und Klöster waren die ersten Gebäude, die wieder aufgebaut wurden, doch viele Häuser sind weiterhin Ruinen, um die sich niemand kümmert“, beschreibt er die gegenwärtige Situation. Schon bald nach seiner Rückkehr begann Rimon Wehbi, den Kindern von Maalula ehrenamtlich Aramäisch-Unterricht zu geben und ein eigenes Curriculum zu entwickeln. In der St. Georg-Kirche unterrichtet er derzeit mehrere Klassen von zwanzig bis fünfzig Schülern. Speziell dafür entwickelt er zudem eigene Unterrichtsmaterialien, denn das West-Aramäische ist keine Schriftsprache, und es gibt so gut wie keine Lehrbücher, schon gar nicht für den Unterricht von Kindern. Überdies widmet er sich der weiteren linguistischen Erforschung des Aramäischen: „Ich bewahre weiterhin die Kassetten mit den Geschichten auf, die mein Großvater uns auf Aramäisch erzählt hat, doch heute nutze ich sie zudem zur linguistischen Analyse.“

Neben dem Unterricht betreibt er das gemeinnützige Bildungsprojekt yawna.org, was auf Aramäisch ‚Taube‘ bedeutet und das darauf abzielt, die aramäische Sprache sowie die Kultur und das Erbe von Maalula zu erhalten. Hier werden das Dorf und seine Geschichte vorgestellt und der gegenwärtige historische und linguistische Forschungsstand zum West-Aramäischen allgemeinverständlich zusammenfasst. Seinen Lebensunterhalt finanzierte Rimon Wehbi mit seiner Arbeit in einem Optik-Fachgeschäft, das er mit seinem Vater und seinem Bruder in Damaskus betreibt, um abends an seinen Aramäisch-Projekten zu arbeiten und am Wochenende nach Maalula zu fahren und zu unterrichten.

Seit September 2023 setzt Rimon Wehbi, gefördert durch den KAAD, seine akademische Qualifikation mit einem Promotionsprojekt fort, in dem er moderne linguistische Methoden zur Sicherung und Erforschung alter Sprachen erlernt und auf das West-Aramäische anwendet.